Der neuartige OR-X an der Universitätsklinik Balgrist ist die 1:1-Kopie eines Operationssaals. Ärztinnen und Ärzte trainieren hier ihre Fertigkeiten und entwickeln gemeinsam mit Forschenden computerunterstützte Operationstechnologien. Chirurgische Innovationen gelangen dadurch schneller in die klinische Praxis, wovon künftige Patienten profitieren werden.
Die Chirurgie ist auch ein Handwerk und dieses will geübt sein. Aus diesem Grund begibt sich eine Gruppe von rund 10 Assistenzärzt:innen an diesem Herbstabend in den neuen Operating Room X (OR-X). Der OR-X besteht aus einem vollwertigen Forschungs-Operationssaal und einem Trainingslabor, dem sogenannten Skills-Lab, das Platz für bis zu sechs Operationstische bietet. In letzterem trainiert die Gruppe im Rahmen einer Weiterbildung das Einsetzen eines künstlichen Kniegelenks.
Nach einem kurzen Briefing durch den Chefarzt verteilen sich die Assistenzärzt:innen auf die chirurgischen Arbeitsplätze. Mit echten medizinischen Instrumenten ausgestattet, legen sie während der nächsten Stunde selbst Hand an: An einem synthetischen Knochenmodell üben sie Schritt für Schritt, wie sie die Knieprothese am Schienbeinkopf und Oberschenkelknochen befestigen müssen.
Im Gegensatz zur konventionellen Ausbildung, die zum grössten Teil am Patienten stattfindet, bietet die chirurgische Übung im OR-X den Assistenzärzt:innen einen entscheidenden Vorteil: Hier können sie ihre Fertigkeiten in einer realitätsnahen Umgebung perfektionieren; sie sammeln in Ruhe und ohne Druck wertvolle Erfahrungen, ohne den Patienten unnötig zu belasten. «Mit dem OR-X verfügen wir über eine Plattform für das chirurgische Training, die den Ärztinnen und Ärzten einen sicheren Rahmen für ihre praktisch-chirurgische Aus- und Weiterbildung bietet», sagt Mazda Farshad, Initiator des OR-X, medizinischer Direktor der Universitätsklinik Balgrist und Medizinprofessor der UZH.
Seit der Inbetriebnahme des OR-X im August finden wöchentlich mehrere solche orthopädisch-chirurgische Weiterbildungen statt – sowohl an künstlichen Modellen wie an menschlichen Präparaten. Bis anhin nutzen hauptsächlich Ärztinnen und Ärzte des Balgrists den OR-X zur Aus- und Weiterbildung. Künftig sollen auch die Studierenden der UZH vom innovativen Lehrzentrum profitieren. In Konzeption ist ein Pilotkurs, der sie in verschiedenen chirurgischen Fachbereichen unterrichtet.
«Im OR-X forschen wir an einfacheren und effizienteren Systemen zur chirurgischen Navigation.»
Mazda Farshad, Medizinischer Direktor der Universitätsklinik Balgrist
Im OR-X wird nicht nur moderne Weiterbildung, sondern auch zukunftsweisende chirurgische Forschung betrieben. «Wir können in einem echten Setting neue Technologien und Innovationen entwickeln», sagt Farshad. Die Grundlage dazu liefert eine Hightech-Infrastruktur, die durch das UZH-Förderprojekt «TRANSFORM» mitfinanziert wird.
Aktuell laufen im OR-X diverse wissenschaftliche Experimente zur computerunterstützten Chirurgie. Robotik, Augmented Reality (AR) und Künstliche Intelligenz (KI) sollen chirurgische Eingriffe und Operationsabläufe datenbasiert unterstützen. Noch werden diese neuartigen Technologien im Praxisalltag der Orthopädie wenig einsetzt, denn ihre Anwendung ist komplex und erfordert eine umfangreiche technische Infrastruktur. «Um diesen Prozess zu beschleunigen, forschen wir im OR-X an einfacheren und effizienteren Systemen zur chirurgischen Navigation», hält Farshad fest.
Im Rahmen des «FAROS»-Projekts, welches durch das Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon 2020 der EU gefördert wird, arbeitet Farshad gemeinsam mit Philipp Fürnstahl, UZH-Professor für orthopädische Computerwissenschaften, an modernen Robotern. Derzeit entwickeln der Kliniker und der Forscher einen multisensorischen Roboter für die Wirbelsäulenchirurgie. Dieser Operationsroboter, mit visuellen, auditiven und haptischen Sensoren ausgestattet, soll in Zukunft autonom Teilschritte von Operationen übernehmen und als Assistent die behandelnden Chirurgen:innen unterstützen.
In dem vom Bund geförderten Grossprojekt «PROFICIENCY» forscht Fürnstahl wiederum an Simulator-unterstützten Trainings, zum Beispiel für die Hüftgelenkoperation. Dabei werden die angehenden Orthopäd:innen mithilfe einer AR-Brille durch die Operation geführt, und sie erhalten zusätzliche Informationen, die das Training effektiver und realistischer machen – etwa computergenerierte Bilder von Geweben, die für den chirurgischen Zugang zum Hüftknochen relevant sind oder von Nerven, die bei der OP möglichst nicht tangiert werden dürfen. Mit künstlicher Intelligenz kann die Trainingsleistung anschliessend ausgewertet werden.
«Unser Ziel ist es, ein qualitativ hochwertiges Training zu entwickeln, das die Abhängigkeit von Instruktor:innen verringert, den Umgang mit Komplikationen schult und letztlich hilft, Fehler in der Praxis zu vermeiden, erklärt Fürnstahl.
«Der OR-X schliesst die Lücke zwischen Labor und echtem Operationssaal.»
Philipp Fürnstahl, Professor für orthopädische Computerwissenschaften
Die Infrastruktur des OR-X ermöglicht es dem Grundlagenforscher, seine Ergebnisse aus Robotik und Augmented Reality in einem frühen Stadium zu validieren und schrittweise zusammen mit Chirurgen weiterzuentwickeln. Bisher war es aufgrund der Patientensicherheit und der gesetzlichen Vorschriften nur sehr selten und spät in einem Forschungsprojekt möglich, neue Prototypen in einer realistischen Umgebung zu testen. «Der OR-X schliesst die Lücke zwischen Labor und echtem Operationssaal und beschleunigt die Translation von Forschungsergebnissen in den chirurgischen Alltag. Davon werden in Zukunft auch die Patienten profitieren», ist Fürnstahl überzeugt.
Digitale Zwillinge
Vorerst werden die neuartigen Technologien zur computerunterstützten Chirurgie weiter experimentell getestet. Nach und nach sollen sie in den OR-X integriert und miteinander vernetzt werden. «In Zukunft wird ein Hochleistungsnetzwerk die Daten der Robotik-, AR- sowie Bildgebungssysteme sammeln. Die Schaltzentrale für die Datenverarbeitung wird eine KI sein, welche die Chirurg:innen im Operationssaal bestmöglich unterstützt», fasst Fürnstahl zusammen. Das ambitionierte Ziel ist es, im OR-X einzelne Operationen vollständig digitalisieren zu können. Ein erster Prototyp wird bereits im Jahr 2025 (als Resultat von TRANSFORM) verfügbar sein. Bis 2027 sollen gemäss Fürnstahl vollständige «digitale Zwillinge» von beliebigen Operationen automatisiert erstellt werden können.
Durch die enge Zusammenarbeit von Klinikern und Grundlagenforschenden bündelt der OR-X chirurgische und technische Kompetenzen in einem Zentrum. «Als Plattform, die innovative chirurgische Forschung und modernes Training kombiniert, nimmt der OR-X in der Schweiz eine einmalige Stellung ein», sagt Farshad.
Der OR-X steht auch anderen wissenschaftlichen Institutionen und externen Firmen offen, schweizweit sowie international. Bereits heute benützen einige Medtech-Firmen den OR-X, um ihre Produkte zu entwickeln und zu testen – zum Nutzen aller: «Die Firmen profitieren von unserer praxisnahen Umgebung, wir Forschenden erhalten direkte Einblicke in die Denk- und Vorgehensweise der Industrie. Ausserdem können wir wichtige Kontakte knüpfen, was für die Umsetzung unserer Entwicklungen in die Praxis hilfreich ist», schliesst Farshad.
OR-X: Chirurgisches Forschungs- und Lehrzentrum: Die Universitätsklinik Balgrist hat mit dem Operating Room X (OR-X) ein neuartiges Forschungs- und Lehrzentrum initiiert, das seit August 2023 in Betrieb ist.
TRANSFORM: OR-X wird im Rahmen des UZH-Förderinstruments «TRANSFORM» in einer ersten Phase unterstützt – dabei werden Teile der Infrastruktur finanziert.
PROFICIENCY / SURGENT: Das Projekt «PROFICIENCY» treibt die Aus- und Weiterbildung von Chirurg:innen voran. «PROFICIENCY» wird von der Schweizerischen Agentur für Innovationsförderung des Bundes (Innosuisse) finanziert und baut auf den Vorarbeiten aus dem Projekt «SURGENT» zur chirurgischen Navigation mit Augmented Reality auf. Im Rahmen von «SURGENT» wurden erstmals Wirbelsäulen-Operationen unter Zuhilfenahme einer AR-Brille durchgeführt. «SURGENT» ist ein interdisziplinäres Projekt der Hochschulmedizin Zürich.
FAROS: Im Projekt «FAROS» werden multisensorische Operationsroboter entwickelt. FAROS wird vom Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon 2020 der EU gefördert.